Der 3. April 1945 –
Aber auch ein Datum, das zeigt, wie sich das Rad der Geschichte weiterdreht.
So beginnt ein Artikel in der Südthüringer Zeitung am 05. April 1995.
Was aber macht diesen Tag so besonders für den Ort Unterbreizbach?
Dafür muss man in das Jahr 1945 zurückschauen.
Der Krieg, der mit den Schüssen auf die Westerplatte bei Danzig am 01.09.1939 begonnen hatte, war nach Deutschland zurückgekehrt. Nicht nur die Bomberpulks der Amerikaner und Briten luden ihre Bomben über Deutschland ab, sondern auch die Panzer und Truppen der Alliierten drangen immer tiefer nach Deutschland hinein
Unterbreizbach war bislang von den kriegerischen Handlungen weitgehend verschont geblieben, wenn auch viele Familien im Dorfe einen oder gar mehrere junge Männer im Kriege verloren hatten.
Doch dann überschlugen sich die Ereignisse am Ostermontag, dem 02.04.1945, und dem darauffolgenden 03.04.1945.
Ereignisse, die prägend waren für die damals Betroffenen, das Ortsbild dauerhaft verändert hat und uns mahnen sollen, was ein sicherer Frieden für ein hohes Gut ist.
Einer dieser Zeitzeugen, mein verstorbener Vater, soll nachstehend mit seinen überlassenen Erinnerungen zu Wort kommen. Er zählte als im Jahr 1928 Geborener zu den am stärksten von Kriegsverlusten betroffenen Jahrgängen und es war ihm wichtig, dass das Wissen um die Ereignisse in Unterbreizbach auch mir und den uns nachfolgenden Generationen erhalten bleibt:
„Wie erlebte ich das unmittelbare Kriegsende in meinem Heimatdorf?
In den Apriltagen des Jahres 1945 fluteten Tag und Nacht geordnete und ungeordnete deutsche Truppenteile aus Richtung Glaam in Richtung Vacha und mir wurde klar, dass der von Hitler und Goebbels propagierte Endsieg nie erreicht werden würde.
Verblendete Volkssturmführer befahlen allen Volkssturmmitgliedern unseres Dorfes und das waren Hitlerjungen im Alter von 16 – 17 Jahren, die noch nicht zum Heeresdienst einberufen werden konnten und Greisen bis 65 Jahren am Karfreitag und Ostersonnabend im Glaamer Grund und in unserem Wäldchen am Kornberg in Stellung zu gehen und mit Karabinern (teilweise Beutewaffen) und Panzerfäusten die anrückenden amerikanischen Truppen, die aus Richtung Glaam kommen würden, aufzuhalten.
Ein banges Gefühl befiel uns Jungen und auch die älteren Männer.
Wie ein Lauffeuer kam plötzlich die Kunde zu uns „Heimatschützern“, dass im Magazin des hiesigen Kaliwerkes der vorhandene „Schachtschnaps“ verteilt würde. Nach und nach verließen die „Kämpfer“ ihre Stellungen, obwohl der Kampfgruppenführer gedroht hatte, jeden zu erschießen der die Stellung verlässt.
Mit allen möglichen Gefäßen wurde der Weg zum Schnaps aufgenommen. Im Magazin war bei meinem Eintreffen schon eine feuchtfröhliche Runde und die mit Bergmannsschnaps gefüllten Kaffeeflaschen gingen von Mund zu Mund. Die Angst vor dem Kommenden konnte der Schnaps aber auch nur kurz dämpfen.
Im Dorf wurde erzählt, dass die amerikanischen Truppen von Bad Hersfeld kommend, bereits in der Nippe wären.
Meine Freunde K. J., G. K. und ich machten uns am Ostersonntagmorgen zu einer Erkundung in das Stöckig. Man wollte die ersten „Amis“ sehen. Aus sicherer Entfernung und durch Gebüsch gedeckt sahen wir amerikanische Soldaten in der Schellmühle beim Essenempfang und motorisierte Kolonnen befuhren die Straße Richtung Heimboldshausen. Ein versprengter deutscher Soldat warnte uns noch und wir Drei zogen daraufhin flugs nach Hause.
Dort angekommen, bewirtete meine Mutter 3 deutsche Soldaten, die Spähtrupp gelaufen hatten, mit Klößen und Braten. Auch ein Vachaer war unter ihnen. Sie zogen sich dann wieder nach Vacha zurück.
Plötzlich rief mein Onkel H. P.: „Die Amerikaner sind da!“
Als ich aus dem Hof lief, sah ich in der Bachstrasse entlang des Baches Jeeps und Panzerspähwagen. Vor der Schmiede Nennstiel stand als erstes Fahrzeug ein Jeep, aus dem 3 baumlange und wuchtige Offiziere ausstiegen und zur Erkundung des unmittelbaren Umfeldes schritten.
In unserem Dorf war zu der Zeit meines Wissens nach kein deutsches Militär. Lediglich ein paar Fronturlauber und verwundete Unterbreizbacher Soldaten, die sich schnell in Zivilsachen kleideten und ein Versteck aufsuchten.
Mein Freund G. K. will gesehen haben, dass nachdem sich die amerikanische Abteilung auf der „Neuen Straße“ in Richtung Philippsthal in Marsch gesetzt hatte, der Führer des Unterbreizbacher Volkssturms auf dem Dorfplatz erschienen war. Mein Freund will gehört haben das der Bürgermeister Schäfer zu ihm gesagt haben soll: „Mach keinen Mist, ich habe soeben das Dorf übergeben!“ Die Antwort soll gewesen sein: „Wir brennen denen eins drauf!“
Ob der Volkssturmführer Truppen angefordert hat, ist mir nicht bekannt.
Plötzlich kamen jedoch 2 deutsche Ketten-LKW in unser Dorf und fuhren in die alte Philippsthaler Straße bis zum Haus des Malermeisters Stephan. Die deutschen Soldaten sahen nun von oben herab auf die amerikanischen Fahrzeuge im Karnweg und der Neuen Strasse. Sie feuerten 2 Panzerfäuste ab. Beide verfehlten ihr Ziel. Die GI versuchten nun den Karnweg zu verlassen. Dabei verkeilten sich Fahrzeuge. Die Besatzungen verbargen sich in Kellern oder Schuppen oder versuchten in Richtung Kirche zu fliehen. Dort wurden sie von den deutschen Soldaten, die die Panzerfäuste abgefeuert hatten, gefangen genommen. Sie wurden mit erhobenen Armen abgeführt. Ein Schusswechsel Mann gegen Mann fand nicht statt und bei dieser Aktion kam, Gott sei Dank, kein Freund oder Feind um Leben und Gesundheit.
Die deutschen Soldaten verließen mit ihren Gefangenen unser Dorf in Richtung Räsa.
Über die Teilnahme von Zivilisten an diesem Geschehen gibt es im Dorf verschiedene Meinungen. Es geht die Rede von 3 bewaffneten Ortsbewohnern. Die amerikanische Abteilung fuhr über die alte Philippsthaler Straße zurück in das Dorf. Unseren Bürgermeister Schäfer nahmen sie in seinem Haus in Gewahrsam.
Der amerikanische Befehlshaber vermutete in der von Schäfer vorgenommenen Übergabe eine List.
Die Soldaten hatten am „Mühlenrain“ und der „Schönen“ Aussicht Stellung bezogen. Sie schossen auf Fahrzeuge auf der Pferdsdorfer Strasse und so ging an diesem Tag als erstes Gebäude die „Dreschhalle“ mit der mobilen Dreschmaschine in Flammen auf. An dieser Stelle befindet sich heute die Bushaltestelle und ein öffentlicher Parkplatz.
Die Amerikaner setzten den Bürgermeister Schäfer auf die Motorhaube des ersten Fahrzeuges und fuhren mit ihm zurück in den Glaamer Grund.
Dort sollte er 10 Männer des Dorfes benennen, die als Vergeltung erschossen würden. Er weigerte sich beharrlich Geiseln zu benennen und erbot sich, ihn zu erschießen.
Seinen Beteuerungen, dass bei der Übergabe des Dorfes kein reguläres Militär im Ort gewesen sei, wurde schließlich Glauben geschenkt.
Danach wurde er in das Dorf zurückgeschickt, aber mit der Maßgabe, dass Unterbreizbach nach Ablauf von 2 Stunden in Schutt und Asche geschossen würde. Atemlos kam B. Schäfer in das Dorf gelaufen und rief die Bewohner auf, die Luftschutzstollen an der Krugs-Mühle, an der Kornbergstrasse, im Werksgelände des Kalischachtes und den Transportbandkanal unter dem 40-er Kalischuppen unverzüglich zum Schutz von Leib und Leben aufzusuchen.
In großer Aufregung und unter Tränen rafften die Bewohner ein paar Habseligkeiten zusammen und begaben sich zu den genannten Schutzräumen. Mein Vater war als Feuerwehrmann im Stollen an der Krugschen Mühle, meine Mutter, meine beiden Schwestern sowie mein Großvater und ich begaben uns zu dem erwähnten Bandkanal.
Hier ein Bild der Verzweiflung. Frauen weinten, Kinder schrien und Männer diskutierten aufgeregt.
Mittlerweile war es Spätnachmittag geworden. Regen nieselte vom Himmel und nach Ablauf der vorgegebenen 2 Stunden schlugen einzelne Artilleriesalven im Larauer Wiesengrund und nicht im Dorf ein. Mit Einbruch der Dunkelheit ließ der Beschuss nach, lediglich im Rhythmus einer halben Stunde erfolgte ein Schuss und das die ganze Nacht hindurch.
Mein Großvater, meine Mutter und ich machten uns nach Hause, fütterten unser Vieh und legten uns, ohne die Gefahr richtig einzuschätzen, in unsere Betten. Keiner konnte jedoch ein Auge zu machen.
Bei Morgengrauen versorgten wir unter Bangen nochmals das Vieh. Dabei konnte man hören, dass ein Flugzeug über dem Ort kreiste und es hat scheinbar beobachtet, dass die Geschoßeinschläge in die Larauer Wiesen gegangen waren und nicht den Ort trafen.
Großvater und Mutter begaben sich wieder zum „Bandkanal“. Ich selbst zauderte noch etwas, als ich dann im Gässchen beim Haus „Schubert“ angekommen war, setzte plötzlich Geschützfeuer ein und die Geschosse schlugen mit schwefligem Rauch in die Gebäude in der Bachstrasse ein. Ich hastete, so schnell ich laufen konnte, die Schachtstrasse hinauf und atemlos erreichte ich meine Lieben. Ein wahres Bombardement ergoss sich nun über unser Dorf.
Plötzlich verstummte das Geschützfeuer und am Eingang des Bandkanals erschienen amerikanische Soldaten.
Alle Männer wurden herausbefohlen, jeder bangte um sein Leben und vor dem Werkskasino (heute Kulturhaus Unterbreizbach), das bereits brannte, musste Aufstellung genommen werden.
Welch grauenhaftes Inferno bot sich unseren Augen. Wo man hinblickte Feuer und dichte Rauchschwaden. Stürmisch fauchend schlugen die Flammen gegen den Himmel.
Mein Großvater in seiner beherzten Art entfernte sich unbemerkt und versuchte durch unseren Garten zum Kuhstall, der sich innerhalb der Scheune befand, vorzudringen. Ohne Erfolg!
Unsere Scheune und auch die Scheune meines Onkels standen wie die anderen Scheunen und ein Teil der Wohnhäuser der Querstraße schon in Flammen.
Über die Hauptstraße gelang uns der Zugang zu unserer Hofreite.
Gemeinsam mit meinem Onkel, der nach Ende des Bombardements auch sein Vieh aus den Ställen trieb, ketteten wir unter Lebensgefahr die Kühe und Jungrinder los. Die Holzdecke des Stalles brannte bereits lichterloh und Funken und brennende Brettstückchen hatten an manchem Tier Brandwunden im Fell hervorgerufen. Glücklich konnten wir die Tiere aus den brennenden Ställen in unsere Koppel am Hahnacker treiben.
Mein Vater und meine Mutter waren inzwischen auch zu Hause eingetroffen und was sie in der Eile und Angst am notwendigsten (Bettzeug, etc.) raffen konnte, luden wir auf den noch aus der brennenden Scheune geretteten Leiterwagen und schoben ihn, an den brennenden und in Rauch gehüllten Häusern vorbei, auf den Sportplatz.
Gegen die umherstiebenden Funken machten wir in der Ulster Tücher nass und breiteten sie über unsere kärgliche Habe.
Es war aber nicht zu verhindern, dass hier und da doch Löcher in die Federbetten brannten.
Ich sah im Zurückeilen, wie die Amerikaner in manches Haus, welches noch nicht brannte, Phosphorbrandsätze warfen. Zu Hause bespritzten wir mit einer Luftschutzhandspritze das Holzgebälk unseres Wohnhauses hofseitig mit Wasser, denn unser Nachbarhaus brannte ja auch lichterloh.
Zwischendurch trugen wir abwechselnd noch Habe auf unseren Wagen auf den Sportplatz.
Mittlerweile brannten auch Gebäude des Schachtes. Auch der 4o-er Kalischuppen, in dessen Bandkanal wir die Nacht verbracht hatten.
Spätnachmittags ließ nun die Feuersbrunst allmählich an Wildheit nach.
Heu und Stroh in den Scheunen sowie die Holzkonstruktionen der Gebäude hatten wie Zunder gebrannt. In der hereinbrechenden Dämmerung flackerten die Flammen der Schwelbrände.
Wo aber waren in der allgemeinen Verwirrung meine beiden Schwestern? Von Nachbarn erfuhren wir, dass sie mit den anderen Frauen, Kindern und auch einzelnen Männern, die in den Schutzräumen des Kalibetriebes waren, Zuflucht in Pferdsdorf gesucht hatten.
Mein Großvater entschied sich, im Hause zu bleiben, um zu wachen.
Mein Vater, meine Mutter und ich fuhren nach Pferdsdorf mit dem Leiterwagen und den geretteten Sachen. Die Zugkuh wurde provisorisch mit Stricken eingespannt, da das Zuggeschirr in der Scheune verbrannt war.
Am frühen Morgen sind wir nach Hause zurückgekehrt und jetzt war es erst möglich das Maß des Unheils zu überblicken. Trümmer über Trümmer und hier und da noch glimmende und kohlende Materie. Über allem auch ein die Augen und Atemwege reizender beißender Brandgeruch.
Dutzende Tiere, die nicht mehr befreit werden konnten, lagen erstickt und verbrannt in den Ställen.
Gegen Mittag kamen meine beiden Schwestern auch wieder zu Hause an und wir konnten dankbar sein, dass alle Glieder der Familie das Inferno körperlich unversehrt überstanden hatten.
Noch heute, nach 50 Jahren erscheint es mir wie ein Wunder, dass in diesem Inferno kein Bewohner von Unterbreizbach sein Leben verloren hat. Lediglich ein Einwohner hat sich, scheinbar in panischer Angst, erhängt.
Wenn sich nun in dieser Zeit der Tag neigte und die Dunkelheit sich ausbreitete, glich unser Dorf einer Geisterlandschaft. Mauerruinen ragten aus dem Dunkel, die Straßen menschenleer und die Bewohner standen noch im Banne des Erlebten. Ängstlich und unsicher war man geworden.
Wie sollte es nur nach diesem schrecklichen Ereignis und dem im Dorf herrschenden Chaos weitergehen? Diese Frage stellte sich wohl jeder, dessen Haus und Hof verwüstet war.
Die amerikanischen Kampftruppen hatten sich mittlerweile weiter ostwärts gekämpft, zur Besetzung unseres Dorfes verblieb lediglich eine kleine Einheit.
Plakate wurden angebracht:
Wer sich an amerikanischem Eigentum vergreift, erhält die Todesstrafe! Fotoapparate, Schusswaffen sind abzuliefern. Bei Nichtbefolgung - Todesstrafe.
Wer sich ab 18 Uhr auf Straßen und Plätzen im Dorfe aufhält, nach dem wird gezielt geschossen.
AlIe deutschen Soldaten haben sich zu melden. Bei Nichtbefolgung - Todesstrafe.
Jeder einzelne Unterbreizbacher war mit sich selbst und seinen Problemen so sehr belastet, dass er die Kapitulation Deutschlands und das Ende des zweiten Weltkrieges an 8. Mai 1945 ohne Spontanität erlebte. Froh und glücklich war man darüber, dass der Völkermord ein Ende hatte! Aber wieviel Leid, Schmerz und Tränen um den gefallenen oder vermissten Ehemann, Vater, Sohn oder Bruder hatte er gebracht? Wunden in die Herzen der betroffenen Angehörigen gerissen, die im Laufe der Zeit zwar vernarbten - aber nie heilten - und aus manchem Gesicht verlor sich das Lächeln und Sorgenfalten traten dauerhaft an dessen Stelle.“
Hier enden die Aufzeichnungen meines Vaters zu den unmittelbaren Geschehnissen der Ostertage 1945. Er hat diese Aufzeichnungen zur Erinnerung aber auch zur Mahnung aufgeschrieben.
In der Zeit, in der wir leben, ist Krieg und Gewalt auch in Europa wieder allgegenwärtig. Fernsehen und soziale Medien liefern uns die bunten Bilder von brennenden Panzern und zerstörten Häusern wie in einem schlechten Actionfilm rund um die Uhr ins Haus. Es ist aber kein Film und auch heute mit unendlichem Leid der Zivilbevölkerung verbunden.
Die Erinnerungen meines Vaters sollen zu Nachdenken anregen was Fanatismus und Hass für konkrete Folgen haben.
Wolfgang Mahret